Plädoyer für eine Religiosität der Erfahrung
Artikel von Salama Inge Heinrichs
genommen aus der „Connection“ Januar 1999
„Jeder Mensch, der sich auf den Weg zu sich selbst begibt, macht religiöse Erfahrungen“ sagt die Münchner Therapeutin Salama Inge Heinrichs. Allerdings unterscheidet sie zwischen Religion und Religiosität (bzw. Spiritualität): Religionen halten sich an Dogmen und Gesetze, sie sind Institutionen. Spiritualität und Religiosität hingegen versteht sie als bewußte Selbstfindung und schließlich Wahrnehmung des göttlichen Seins im eigenen Wesenskern
Spiritualität und Religion haben eines gemeinsam: Sie bedeuten Suche nach Gott, nach dem Lebenssinn, dem Wesentlichen, dem Eigentlichen. Was Spiritualität und Religion voneinander unterscheidet, ist: Religionen halten sich an Dogmen, an Gesetze, sie sind Institutionen, die Gläubige zusammenhalten und Politik damit machen. Spiritualität hingegen will die wesenseigene Religiosität finden, jenseits von Institutionen, Gesetzen und Dogmen. Spiritualität ist die bewußte Selbstfindung und schließlich Wahrnehmung des göttlichen Seins im eigenen Wesenskern. Sie ist der Aufbruch einer erwachenden Seele und der erwachenden Menschheit in eine neue Dimension der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie schafft ein neues Verständnis von Moral und eine neue Übungspraxis.
Religion, wie sie heute betrieben wird, hat nicht mehr viel mit den Bedürfnissen und Möglichkeiten der gegenwärtigen Menschheit zu tun. Mit ihren Dogmen und Glaubenssätzen sind die Religionen politische Institutionen geworden, die die Seelsorge vergessen haben und vor allem ihre Machtposition stabilisieren.
Schon die Aufforderung Jesu „Komm, folge mir“ ist von den Kirchen so interpretiert worden, daß wir einem Hirten nachlaufen sollen, der uns zum Heil führt. Seine Worte aber und deren Ergänzungen in den wiederentdeckten, verschollenen Evangelien (z.B. das koptische Thomas-Evangelium), scheinen authentischer zu sein als die paulinische Religionspolitik. Sie sprechen eine Sprache, die uns auch heute noch viel zu sagen hat, so wie jede ursprüngliche Weisheit, die aus dem wirklichen Leben schöpft.
Erfahrung statt Wissen
Doch was ist Religion eigentlich? Zunächst gilt, daß alle Religionen weise Stifter haben. Alle haben einen weisen Kern, aber fast alle sind für politische Zwecke ausgebeutet worden, ausgenommen vielleicht einige wenige, archaische Naturreligionen, für die es noch keinen Anlaß gab, Macht über ihr Territorium hinaus auszudehnen.
Wenn der Weise tot ist, macht die Politik ein Dogma daraus. Vielen Menschen geht es heutzutage viel mehr um Religiosität und Spiritualität als um Religionen. Es geht ihnen um ein lebendiges Fühlen und Teilnehmen an der kosmischen Wirklichkeit, um die Erweiterung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, nicht um Festlegungen und Festgelegtes. Es geht ihnen nicht um Wissen, sondern um Erfahrung. Sie suchen Gott nicht irgendwo da draußen im Weltall oder dahinter, sondern seine Präsenz in dem, was ist, vor allem im eigenen Herzen.
Die jüdische Kabbala sagt hierzu: „Gott ist in seinem Wesen nicht erkennbar, in seinen Offenbarungen aber ist er erkennbar. Das Universum bildet seinen Körper“. Wir sind Geschöpfe des Universums, wir sind Teilnehmer und Teilhaber am kosmischen Geschehen. Trotz unserer Kleinheit und persönlichen Unbedeutendheit dürfen wir uns als wichtige Geschöpfe, als Repräsentanten göttlicher Abkunft betrachten. Auch dann, wenn wir das vergessen haben sollten oder nicht glauben können. „Religio“ heißt zurückfinden. Religiös sein heißt, sich auf das Göttliche zu beziehen und nicht auf von uns Menschen zusammengechannelte und zusammengebastelte Gesetze und Dogmen. Religiös handeln heißt, soziale Intelligenz im Hinblick auf die ewigen Gesetze anzuwenden und die notwendigen irdischen Gesetze zu entwerfen zur Erhaltung des Lebens auf Erden, gemäß der geschichtlichen Epoche und ihrer Möglichkeiten.
Religiös leben heißt, sich in jedem Augenblick seiner selbst bewußt zu sein, aus der inneren Verantwortung heraus zu handeln und der inneren Stimme zu folgen. Auch wenn sie uns in ein Schlamassel führt, so führt sie uns doch auch wieder heraus, vorausgesetzt wir lassen uns auf das Geschehen ein. Probleme können als Wegweiser erkannt, als Helfer benützt, als Material verarbeitet und als Anreger von Energieentfaltung begrüßt werden.
Religiös sein
Religiös sein heißt endlich, sich in Demut und Dankbarkeit vor den Offenbarungen des Ewigen zu beugen. Wer das nicht freiwillig tut, der wird eines Tages dazu gezwungen. Der Hinduismus nennt es Karma, die Kirche nennt es Sühne. Ich selbst und viele meiner Freunde und Helfer nennen es die universelle Gerechtigkeit. In ihrer totalen Liebe begleitet sie jedes Wesen durch die Hölle und erteilt ihm die Lehren, die es braucht, um bewußt zu werden. Wir wissen nicht wozu, wir wissen nur, daß es geschieht und daß dieser Prozeß unendlich ist. Und wenn wir uns entschließen, auch das Kreuz auf uns zu nehmen, das Erkenntnisprozesse mit sich bringen, dann dürfen wir an ihnen bewußt teilhaben. Das Kreuz als Symbol für Konsequenzen, die dazu dienen, klug zu werden, zu lernen und Kreativität zu entwickeln.
Als Kind dachte ich oft, wenn ich vor dem Kreuz knien mußte: Das steht da wie ein Verkehrspolizist, der sagt „Bis hierher und nicht weiter!“. Meine Fragen waren damals: Warum? Wohin? Wie? Das fragen wir auch heute, und ich bin noch nicht einmal sicher, ob wir überhaupt fragen dürfen, ob es nicht eine Zumutung für die Schöpfung ist, solch kleinen, wahnsinnigen Ego-Würstchen, wie wir es hier auf Erden sind, die Wahrheit mitzuteilen. Schon in der Gralssage heißt es: Das Licht der Wahrheit tötet, wenn es einen Menschen unvorbereitet trifft, denn die Wahrheit ist brutale Universalität, sie wirft unsere Vorstellungen, Hoffnungen und Sehnsüchte total über den Haufen.
Ken Wilber gibt zu bedenken: „In dem Maße, in dem die Menschen auf ihrem Weg aus dem Unbewußten die Fähigkeiten und Fertigkeiten in andere Bereiche ausweiten, vergrößert sich auch die Reichweite ihres Wahnsinns.“ Dennoch kann diese Gratwanderung zur Wahrheit führen.