Die Kunst am Boden zu bleiben
genommen aus „Sein-Berlin“ November 1997
Wer das Ziel im Kopf hat, aber die Erde nicht spürt, fällt auf die Nase.
Buntes Treiben herrscht auf den Marktplätzen der „höheren Bewußtseinsstufen“. Esoterik-Messen, Workshops, Seminare und eine ungeahnte Bücherschwemme machen die ehemaligen Geheimwissenschaften alter Kulturen, sowie die neuesten Einsichten und Spekulationen spiritueller Sucher und Forscher einem breiten Publikum zugänglich.
Da wird gependelt, gechannelt und orakelt, Horoskope werden chinesisch, indianisch, arabisch oder europäisch gedeutet, und das Tarot in immer neuen Versionen befragt. Kosmische Energien fließen durch zahllose Hände und mit Bachblüten werden die Flecken aus der Aura getupft. Lichtwesen und aufgestiegene Meister werden zur Hilfe gerufen, Schamanen und Medizinmänner unterrichten die Begegnung mit Krafttieren, Geistern und Dämonen.
Wahrlich, Wunder werden vollbracht, Visionen gefunden, Resultate erzielt. Instant-Erleuchtung kraft Pay-TV oder telefonischer Meditationsberatung scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Nach dem uns die astralen Kanalarbeiter freundlicher Weise alle karmischen Hindernisse aus dem Weg geräumt haben, begeben wir uns vergnügt auf die Autobahn zum kosmischen Bewusstsein.
„Vorsicht Schleudergefahr ! Schlechte Sicht und Straße nass – Augen auf und Fuß vom Gas !“
Lebenskunst, die Kunst des Lebens heißt, Bewusstsein entwickeln. Aber Bewusstsein, bedeutet bewusstes Sein, und entwickeln kann sich nur, wer um seine Verwicklungen weiß.
Gerade der Kosmos, der Himmel und die Welt der Geister und Dämonen bieten eine riesige Projektionsfläche für unsere Ängste, Wünsche und Hoffnungen. Wir interpretieren und werten unbewusst alles auf dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte. Solange wir uns nicht unserer Geschichte bewusst sind, und Projektionen erkennen, ist alles was wir zu sehen glauben nur Schall und Rauch, Illusion, verzerrt durch das Echo unserer eigenen Verstricktheit.
Früher gaben die Eingeweihten, Meister und Medizinmänner das in Jahrhunderten angesammelte Wissen nur an ausgewählte Schüler weiter, und auch dann oft nur nach jahrelanger Ausbildung, Training und Prüfung. Heute steht dieses Wissen, durch alle möglichen und unmöglichen Veröffentlichungen, nahezu jedem Menschen zur Verfügung und stiftet oft nichts weiter als eine unglaubliche Verwirrung. Wer nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht hebt ab. Wer ab hebt verliert den Kontakt zu sich selbst, zu seiner „Wirk“lichkeit. Schnell führt die Suche in die „Irre“, in den religiösen Wahn. Lebenskunst aber meint, alle (Wahn-) Vorstellungen und Muster abzulegen, sich selbst und das Leben annehmen. Nur so wird es möglich jeden Lebensabschnitt, als Summe von Augenblicken neu zu erfahren und sich dem Erleben zuzuwenden, das JETZT möglich ist.
„Wer das All erkennt, sich selbst aber verfehlt, verfehlt das All“